"Die Menschen in Deutschland werden immer älter, die Zahl der Kinder sinkt, unsere Sozialsysteme sind in Gefahr" - solche Aussagen kann jede und jeder von uns zurzeit häufig lesen und hören. Der Begriff vom "demografischen Wandel" ist in aller Munde: in der Forschung, in der Politik, in öffentlichen Debatten.

Eng verknüpft mit den Statistiken und Prognosen sind Verteilungsfragen und somit auch Fragen der Gerechtigkeit und Zukunftsplanung. Und mit ihnen kommen wiederum Kategorien wie "Erbe" und "Generation" ins Spiel. Welche Rolle spielen diese Konzepte in der demografischen Debatte? Auf diese Ausgangsfrage zielt das Projekt "Generationen in der Erbengesellschaft - ein Deutungsmuster soziokulturellen Wandels" unter der Leitung von Professorin Dr. Sigrid Weigel vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, das die VolkswagenStiftung als neues "Schlüsselthema der Geisteswissenschaften" mit rund 900.000 Euro fördert.

"Generation" und "Erbe" sind zugleich biologische und soziale Kategorien, die nicht selbsterklärend sind, sondern äußerst bedeutungsreich und gebunden an bestimmte - historische und kulturelle - Bedingungen. Diesen Facetten der beiden Begriffe nachzuspüren und deren Rolle im soziokulturellen Wandel zu untersuchen, ist das Ziel des interdisziplinären Vorhabens, das Sigrid Weigel gemeinsam mit Professor Dr. Peter Breitschmid vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und Professor Dr. Martin Kohli vom European University Institute Florenz angehen wird. Der umfangreiche Themenkomplex soll dabei aufgefächert und in sechs Teilprojekten bearbeitet werden:

o Der Nachfolgeprozess in Familienunternehmen ist Kernthema des soziologischen Teilprojektes. Drei Branchen sollen in Deutschland und Italien mittels quantitativer und qualitativer Analysen verglichen werden: verarbeitendes Gewerbe, Konsumgüterproduktion und Dienstleistungen.

o Der deutschsprachige Generationenroman der Gegenwart steht im Zentrum des literaturwissenschaftlichen Vorhabens. Wie spiegeln sich in ihm demografische Diskurse und Generationenkonflikte? - Ein Textkorpus von 30 Romanen wird auf diese Inszenierungen untersucht.

o Ein weiteres Teilprojekt befasst sich mit dem Denken in Begriffen von Generationen im Bereich der ökonomischen Analyse, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg nach und nach herausbildet: Basiert tatsächlich jede Gesellschaft auf einer klaren Abgrenzung zwischen "Alten" und "Jungen", um insbesondere viele "Austauschprozesse" entsprechend zu regeln?

o Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wird der Frage nach dem kulturellen Erbe als symbolischer Ordnung nachgegangen: Welche Rolle spielt das Konzept der Intergenerationalität als Argument und Problem in der globalen Kulturpolitik, etwa für die Zuweisung des Prädikats "Weltkulturerbe"?

o Ein Forscherteam aus den Rechtswissenschaften beschäftigt sich mit dem Erbrecht, das sich bis heute auf das Familienbild des ausklingenden 19. Jahrhunderts stützt: Wie kann es den veränderten Bedingungen Rechnung tragen, denen moderne Gesellschaften unterliegen?

o Das sechste Teilprojekt beleuchtet intergenerationelle und intersubjektive Aspekte zu bioethischen und biodemografischen Fragen. Hierbei werden auch Konzepte eingebunden von Mittelalterhistorikern - etwa zur Tauschökonomie zwischen Lebenden und Toten und oder Stiftungswesen.

In seiner Gesamtperspektive erforscht das Wissenschaftlerteam somit nicht den demografischen Wandel "an sich", sondern die Deutungsmuster, die für diesen Wandel herangezogen werden. Ziel ist es, eine Art "Kulturdemografie" zu entwickeln - mit Hilfe diskursanalytischer und empirischer Untersuchungen sowie begriffs- und kulturgeschichtlicher Reflexionen. Münden soll das Vorhaben, das durch Tagungen begleitet wird, in verschiedenen Einzelpublikationen und einer Gesamtmonografie. Sigrid Weigel knüpft mit diesem Projekt an die Ergebnisse eines ebenfalls als Schlüsselthema der Geisteswissenschaften von der VolkswagenStiftung - mit seinerzeit 750.000 Euro - geförderten Projekts an: "Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel".

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